„Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Mit diesem Satz läutete SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski am 9. November 1989 um kurz vor 19:00Uhr auf einer Pressekonferenz den Mauerfall ein. Eigentlich sollte die neue „Regelung zum Reisegesetz der DDR“, die folgenden Passus enthielt: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der VPKÄ – der Volkspolizeikreisämter – in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen […]“, erst um 4:00Uhr im Rundfunk der DDR, bekannt gegeben werden.
Ich bekam davon nichts mit, denn seit 17:00Uhr hatte ich Reservedienst auf dem Betriebshof Spandau. Ich saß also mit meinen Kollegen in der Kantine und trank Kaffee. Wir unterhielten uns natürlich neben dem üblichen „Buschfunk“ auch über die Entwicklungen in der DDR. Seit Wochen war die Luft elektrisch geladen. Vor vier Tagen haben eine Million Menschen auf dem Alexanderplatz demonstriert,
seit Wochen gibt es in Leipzig die berühmten Montagsdemos. Das die Mauer heute ihren Schrecken verlieren würde und sich in wenigen Stunden wildfremde Menschen aus Ost-und West in den Armen liegen würden, das aber wagte keiner von uns zu hoffen. Auch von der schicksalhaften Pressekonferenz sollten wir zum Anfang nichts mitbekommen. Weder gab es einen Fernseher oder ein Radio in der Kantine - noch hatten wir Handys…Wir spielten also Karten und warteten auf Arbeit. Entweder einen Wagen wechseln, einen erkrankten Kollegen ablösen oder vertreten. Es war scheinbar ein Dienst wieder andere auch. Ein paar Mal wurde ein Kollege per Lautsprecher zum Rangierer gebeten um einen Wagen zu wechseln, ein anderer musste für eine halbe Runde auf dem 56er einspringen, weil ein Kollege verschlafen hatte. Ich wechselte nur einen 94er an der Gatower Straße Ecke Heerstraße aus. Der fast neue D89 hatte eine Türstörung. Also raus mit meinem D86, ab nach vorne und das Auto getauscht. Mehr als 15 Minuten hat die ganze Aktion nicht gedauert und ich wollte mich gerade wieder dem Kaffeeautomaten widmen, als es um kurz vor 22:00Uhr aus dem Lautsprecher krächzte:
„Alle Kollegen bitte sofort zum Rangierer, alle Kollegen sofort zum Rangierer!“
Wir gingen strammen Schrittes nach vorne und auch die Schlosser aus der Werkstatt kamen ungewöhnlicherweise in Richtung Rangierer- und Pförtnerbude gelaufen. „Wat ist denn los?“, fragte ein Kollege. „Kinder, ich hab eben einen Anruf aus der Hauptverwaltung erhalten! An der Grenze kommt es zu tumultartigen Szenen. Es gibt anscheinend massenhaft Ausreisen von DDR-Bürgern.
Beten wir, dass nicht geschossen wird! Es kann sein, dass wir heute Nacht noch Flüchtlinge in Notaufnahmelager transportieren müssen! Früher Feierabend machen ist nicht!“, sagte der Rangierer und schaute auf seinen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher. Normalerweise war es im Reservedienst Usus, dass man eine Stunde früher ging wenn nichts los war. Wir gingen wieder Richtung Kantine und unterhielten uns über das eben gehörte. „Na das kann ja was werden, hoffentlich lassen die Grenzer die Gewehre im Waffenschrank!“. sagte ich mit etwas Unbehagen. Vorbei war die Ruhe und alle Gespräche handelten nur von einem Thema: Was wird jetzt? Alle waren angespannt und riefen zu Hause an, dass es heute länger werden kann. Dabei sickerten natürlich Informationen von den Ehefrauen durch, die alles über das Fernsehen verfolgten. Zu diesem Zeitpunkt wusste Niemand, ob es heute die schönste Nacht der deutschen Geschichte oder zu einer Tragödie kommen würde.
Kurz nach 23:30Uhr ertönten wieder die Lautsprecher: “Alle Kollegen sofort zum Rangierer – sofort!“. Wir rannten los und vor als der Rangierer mit Tränen vor uns stand begriffen alle,
dass etwas passiert sein musste: „Die haben die Grenze geöffnet. An der Bornholmer Straße ist der Schlagbaum oben, kiekt selbst!“ Wir starrten auf den Fernseher und sahen die Live-Bilder im SFB.
Hupend fuhren die Trabbis und Wartburgs über die Grenzlinie, als wäre es das normalste der Welt. Menschen lagen sich weinend in den Armen und feierten gemeinsam die friedliche Grenzöffnung. Da liefen auch bei uns die Freudentränen. Allerdings wusste bei all der Freude niemand, wie lange diese Grenzöffnung anhielt. „Wenn die jetzt wieder dicht machen, haben wir ein Problem! Die Höfe Müllerstraße und Usedomer Straße schicken jetzt alles los, was Räder hat. Wir bleiben in Bereitschaft! Bei Bedarf werden auch wir Wagen schicken, die Tageswagen bleiben in der Innenstadt nach Möglichkeit erstmal draußen. S-und U-Bahn werden die Nacht durchfahren!“, sagte der Rangierer. Wir bereiteten uns auf eine lange Nacht vor. Sämtliche Kollegen, die jetzt miz ihren Wagen „von Strecke“ zurück auf den Hof kamen und eigentlich Feierabend hatten, blieben spontan länger und waren bereit Überstunden zu fahren. Kollegen die Frei hatten, erschienen auf dem Betriebshof und boten
ihre Hilfe an. Selbst die Damen aus der Kantine kamen und öffneten die Essensausgabe wieder zu dieser unüblichen Zeit. Alle redeten durcheinander und kaum ein Augenpaar war trocken.
„Jetzt ist die Heerstraße offen!“, rief einer und wir liefen alle zum Zaun. Wer dieses Bild sah wird es nie vergessen: Ganze drei Spuren nebeneinander wurden von Trabbis und Wartburgs in Richtung Innenstadt in Beschlag genommen. Das typische Tuckern der Zwei-Takt-Motoren und unter den Laternen sammelte sich der Dunst – der Geruch war einmalig! Richtung Staaken blieb nur eine Spur übrig. Alle hupten und freuten sich. Westberliner standen auf der Straße und feierten gemeinsam mit ihren Landsleuten aus der DDR. Starr vor Tränen ging ich zum Rangierer und bekam einen Bus zugeteilt.
Ich fuhr zur Heerstraße/ Stadtgrenze und traute meinen Augen kaum! Der ganze Grenzbereich war schwarz vor Menschen. Ich lud den Wagen voll und fuhr Richtung Innenstadt. Die Stimmung im Bus war unbeschreiblich. Stehplätze im Oberdeck? Zu dritt auf einer Bank? Alles kein Problem heute Nacht! Es wurde gesungen, gelacht und geweint. Der Betriebsfunk überschlug sich mit immer neuen Meldungen. Dort war was los, dort waren Massen unterwegs. Am Kurfürstendamm angekommen, gab mir ein Zeitungsbote eine Zeitung. „Die Mauer ist weg! Berlin ist wieder Berlin!“ stand dort auf der Titelseite.
Es ging Betriebsfahrt zurück und die nächste Fuhre startete. Teilweise wurden wir von der Polizei durch den Gegenverkehr eskortiert – sonst wäre alles zum Erliegen gekommen! So fuhren wir Runde um Runde bis zum nächsten Mittag! Arbeitszeitvorschriften? Ruhezeiten? Das interessierte damals keinen Menschen! Kaffee und Snacks wurden uns von Kollegen raus gebracht.
Als ich gegen 12:00Uhr auf den Hof zurück kehrte, hatte ich Augenringe wie ein Berufsboxer. Ich schaute noch kurz im Schaffnerraum vorbei und hörte, dass viele Verkehrsbetriebe aus der gesamten Bundesrepublik Busse und Fahrer Richtung Berlin geschickt haben, um uns zu unterstützen. Bis zu einer Million Fahrgäste mehr am Tag, wären sonst nicht zu stemmen gewesen. Die BVG und der Senat mieteten auch sofort sämtliche Reisebusse in Berlin (West) an um die Massen zu befördern. Natürlich leisteten auch die Kollegen der Ostberliner BVB und die Umlandbetriebe eigentliches Unmögliches!
Die Freude und die Solidarität damals sind bis heute unvergessen!
Ich fuhr also müde mit meinem Auto nach Hause legte mich schlafen. Nach vier Stunden schlaf ging es dann – drei Stunden später als eigentlich vorgesehen - wieder los. Wer diese Zeit damals erlebte, wird sie nie vergessen…
Ein paar persönliche Worte seien mir gestattet:
Die oben stehende Geschichte ist die wahre Geschichte eines Kollegen meines Großvaters. Er selbst fuhr an diesem Tag erst auf dem 92er und hatte dann eigentlich von 0:00Uhr bis 2:00Uhr Hofdienst, allerdings fuhr auch er an diesem Tag erneut zur Stadtgrenze. Bei der letzten Abfahrt um 23:30Uhr von dort war noch alles ruhig...
Auch ich stand als 4jähriger mit meiner Großmutter an der Heerstraße. Allerdings ein paar Kilometer weiter westlich in Höhe der Haltestelle "Heerstraße 438-446". Wir liefen in Richtung Stadtgrenze und
selbst ich mit meinen vier Jahren verstand, dass diese Nacht etwas ganz Besonderes war. Als es am nächsten Tag in den Kindergarten ging, war der 92er ein völlig überfüllter Reisebus mit einem Pappschild in der Frontscheibe. Ich werde nie die nach Veilchen riechende ältere Ostdeutsche vergessen, die mich auf ihren Schoß nahm...
Link zum originalen Dienstplan von damals